Fünf Kunstwerke aus Sandstein sind neu Teil der renovierten Kirche Herz Jesu Wiedikon. Entstanden sind die Interventionen des Künstlers Karsten Födinger im intensiven Dialog mit den Architektinnen und den Kunstverantwortlichen der Baukommission. Die Skulpturen sind archaisch-geerdet – und lassen Raum für himmlisch-spirituelle Assoziationen. Ein Engelsflügel, der Faltenwurf einer Robe, der Rockzipfel von Marias Gewand, eine Verbindung von Himmel und Erde, ein offenes Ohr oder Gottes Hand, die uns unsichtbar entgegengestreckt wird: Die skulpturale Kunst in der Kirche Herz Jesu regt die Fantasie an. «Ein gutes Kunstwerk braucht nicht unbedingt eine Erklärung. Die Kunst soll ein Eigenleben entwickeln und sich entfalten können», sagt Karsten Födinger, der Künstler, der die Steinskulpturen für Herz Jesu Wiedikon entwickelt hat. Er stammt aus Mönchengladbach (D), hat an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe studiert und lehrt als Professor für Bildhauerei an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle (D). In seinem Schaffen konzentriert er sich auf oft grossformatige, ortsbezogene Skulptur. Inspiration für die eigene Spiritualität Diakon Ronald Jenny findet die Kunstwerke sehr inspirierend. Es gelingt ihm, zu jedem Werk einen theologischen oder spirituellen Bezug herzustellen und eine Geschichte aus der Bibel zu erzählen. So erinnert ihn zum Beispiel eines der Werke an die Stelle im Neuen Testament, wo es heisst: «[…] der Vorhang riss im Tempel von oben bis unten entzwei», als Jesus am Kreuz starb (Mt 27,51; Mk 15,38; Lk 23,45). In einem anderen sieht Jenny eine stützende Funktion, die er mit Giottos berühmten Fresko in der Basilika San Francesco in Assisi in Verbindung bringt: Im Traum erscheint hier Papst Innozenz III. Franz von Assisi, der die wankende Kirche stützt. In einer weiteren Skulptur sieht er den Erzengel Michael mit dem Schwert, in einer anderen eine Muschel, in der man nach einer Perle suchen kann. Das vom Künstler formulierte Ziel, dass die Kunst für sich ein Eigenleben entwickeln soll, scheint in der Kirche Herz Jesu also gelungen zu sein. Diese Haltung spiegelt den heutigen Zeitgeist wider: Kunst darf nicht lehrmeisterlich sein oder gar predigen – sie ist ein Angebot für alle, darin einen persönlichen Bezug zu finden. Das skulpturale Kunstwerk von Karsten Födinger, das über der Marienskulptur schwebt, vollendet das spirituelle Erlebnis in der Marienkapelle und lädt zum Meditieren ein. Fotos: Serge Hasenböhler. Kunst für den sakralen Raum Die Kunst in Kirchen hatte einst eine ganz andere Funktion. Sie diente dazu, den Menschen in Bildern die Bibel und ihre Geschichten näherzubringen. Sakrale Kunst war Auftragsarbeit, über das Sujet entschieden die Mäzene. Dem Künstler oder der Künstlerin blieb oftmals nur ein kleiner Spielraum, die darzustellende Szene zu interpretieren. Wem eine eigenwillige Interpretation gelang, der hatte seinen Platz in der Kunstgeschichte. So prägte zum Beispiel Michelangelo mit seiner Pietà das Bild Muttergottes über Jahrhunderte – und Caravaggio revolutionierte gängige Bibelszenen, indem er sie ins Umfeld des einfachen Volkes verlegte. Auch der Künstler Felix Baumhauer vermittelte 1924 mit dem Apsisbild der Darstellung der christlichen Dreieinigkeit in der Kirche Herz Jesu eine klare christliche Botschaft: Er malte die Szene nach seiner Vorstellung – seine individuelle Ausgestaltung der Figuren stösst seither immer wieder auf Kritik. Beim Apsisbild, der Pietà und Caravaggios Szenen handelt es sich um sakrale Auftragskunst – also Kunst, die gegen Bezahlung ein spezifisches sakrales Thema behandelt. Auch die Werke von Karsten Födinger sind Auftragsarbeiten, allerdings nicht sakrale Kunst – sondern Kunst für den sakralen Raum. Stein aus der Ostschweiz Karsten Födinger wurde von den Architektinnen als Künstler vorgeschlagen. Gemeinsam verfolgten sie den Anspruch, die Kunst als inhärenter Bestandteil der Architektur zu verstehen und nicht als nachträgliche Applikation. So gliedern zum Beispiel die säulenartigen Skulpturen entlang der Seitenschiffe die steinerne Sitzbank und wirken in ihrer Grösse und Materialisierung körperlich präsent. Viel zu reden gab insbesondere die Materialisierung. Gesucht war ein Material, das eine «dramatische» Geschichten erzählen konnte und zugleich «schon immer da» war und der göttlichen Schöpfung entstammte. Für seine Skulpturen wählte er schliesslich grobkörnige Sandsteinblöcke aus dem Teufener Sandsteinbruch Lochmühle; die anspruchsvollen Steinmetzarbeiten wurden gemeinsam mit der Firma Schmitt Natursteinwerk AG aus Herisau ausgeführt. Födingers Kunstwerke integrieren sich in den Kirchenraum und unterstützen die architektonische Gliederung – mit und ohne Kirchenbesuchende. Foto: Serge Hasenböhler. Keine laute Kunst Födinger lässt in seinen Skulpturen das Material sprechen und spielt bewusst mit den Extremen, welche die Steinbearbeitungstechnik zulässt: Er belässt stellenweise den archaisch unbearbeiteten Stein, lässt gewisse Flächen grob behauen oder mühselig von Hand bearbeiten und formt wiederum andere Stellen in hochtechnischen, digitalen Prozessen mittels CNC-Fräsen. Diese Extreme lassen sich am deutlichsten an der Skulptur im Aussenraum erkennen: Hier stützt ein roher Findling eine aus Stein geschliffene «steinige Rundung» mit Kernbohrungen, die als «Falten» gesehen werden können. Damit bekommt das Schwere, Bestehende und Feste, das dem Stein innewohnt, etwas Leichtes und Fragiles. Für die Formgebung liess sich Födinger von Gewandfalten inspirieren, wie sie seit Jahrhunderten als klassisches Motiv in der christlichen Ikonografie vorkommen. Teil des Gesamtkunstwerks Ähnlich wie die Architektinnen Nina Andrea Renner und Corinne Weber, die mit ihren Renovierungsplänen auf das Bestehende reagierten, arbeitete auch Karsten Födinger: Die säulenähnlichen Skulpturen entlang der Seitenwände gliedern die Seitenschiffe der Kirche, die gewandartige Skulptur in der Marienkapelle verbindet unten – die Erde – mit oben – dem Himmel; und das Werk im Aussenraum nimmt Bezug auf die Strassenkreuzung, den physischen Standort der Kirche. «Die Figuren sind nicht aufdringlich», sagt Architektin Corinne Weber, «sondern strahlen Ruhe und Wärme aus.» Die Steinskulpturen fügen sich harmonisch ein in das neu gestaltete Kircheninnere, verleihen dem Raum eine klare Struktur. Sie sind Teil des sinnlichen Gesamtkunstwerks, der umgebauten Kirche Herz Jesu Wiedikon. Hier geht es zur Website des Bildhauers Karsten Födinger. Unbearbeiteter Stein in Kombination mit bearbeiteten Teilen. Fotos: Serge Hasenböhler.
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September 2024
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