Ronald Jenny und Artur Czastkiewicz haben unterschiedliche Werdegänge. Die Arbeit in der Pfarrei Herz Jesu Wiedikon verbindet die beiden seit mehr als einem Jahrzehnt. Ein Gespräch über die Seelsorge der Gegenwart und über die Chance neuer Formate. Artur Czastkiewicz, du stammst ursprünglich aus Polen und kamst für das Studium in Fribourg in die Schweiz. Wie hat es dich nach Herz Jesu Wiedikon verschlagen? Artur Czastkiewicz (AC): Das ging damals – es war 2009 – ganz schnell. Ich arbeitete in Genf, war für die polnische Mission in der Westschweiz zuständig. Da rief man mich nach Zürich, weil der damalige Pfarrer zum Bischof in Polen berufen wurde. Ronald Jenny (RJ): Auch bei mir ging’s damals rasch – quasi über Nacht wurde ich 2010 zum Gemeindeleiter ad Interim und am 1. April 2011 offiziell zum Gemeindeleiter von Herz Jesu Wiedikon gewählt. Vor dieser Zeit war ich Bereichsleiter auf der Jugendseelsorge in Zürich und habe über 35 Jahre in der Jugendpastoral auf verschiedenen Gebieten gewirkt. Artur und ich bereiteten dann eine Reorganisation vor und setzten sie um. Wir zwei arbeiten also schon seit zehn Jahren zusammen! AC: Stimmt! Ich habe dann noch im Bereich Kirchenrecht doktoriert und dann war ich 2016 bis 2020 im Generalvikariat tätig, zuständig für die Migrantenseelsorge. Immer aber blieb ich Herz Jesu Wiedikon verbunden, 2013 bis 2020 war ich Pfarradministrator, heute Gemeindeleiter. Die Vielfalt des Pfarreilebens hier begeistert mich nach wie vor. Denn aufgewachsen ich in einer traditionellen Gegend mit einer typischen polnischen Volkskirche. Unsere Aktivitäten haben sich nicht reduziert. Sie haben ein neues Gesicht bekommen. Herz Jesu Wiedikon hat eine traditionelle Seite – aber auch eine ganz moderne: Aussenstehende, die sich über die Pfarrei informieren wollen, stossen bald auf den YouTube-Kanal. RJ: Ich bin nicht sonderlich begabt mit den technischen Dingen. Aber während der Pandemie war das eine Möglichkeit, einige aufmunternde Worte zu spenden. Während des ersten Lockdowns liess ich mich für die Video-Impulse verschiedentlich inspirieren – vom Basilikum auf dem Balkon ebenso wie von Haikus. Meine Seelsorge lebt normalerweise aber durch die Begegnung. Seelsorge ist Beziehungsarbeit. AC: Auch ein YouTube-Video kann Beziehungsarbeit sein. Wenn wir nach einem Video eine begeisterte E-Mail erhalten oder ein Lob für die Webseite, dann stehen wir in Kontakt miteinander. Bei der Polenmission hier in Herz Jesu Wiedikon sammelten wir Erfahrungen mit der Live-Übertragung von Gottesdiensten. Das hat gut funktioniert. RJ: Wie häufig im Leben ist es auch hier bei der Seelsorge nicht ein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. Wir müssen verschiedene Formate anbieten und pflegen, um mit den Menschen in Kontakt zu bleiben. Besonders viele Menschen erreichen wir über das Singen. AC: Dazu gehören das Kindersingen, die Singschule und unser Kirchenchor, der Gregorius-Chor. In der Pandemie wurde es mit dem Singen sehr schwierig. Die Initiative unserer Kirchenmusiker zeigt das Video «Meine Hoffnung und meine Freude», das im Frühling 2020 entstand. Einst gab es in Herz Jesu Wiedikon ein reges Vereinsleben. Für jeden Lebensabschnitt existierte der passenden Verein. RJ: Ja, das ist tatsächlich so. Das Vereinswesen hat sich hier weitgehend aufgelöst. Wir merken hier die Veränderungen, wie sie überall in der Gesellschaft zu spüren sind: Die Menschen wollen sich lieber nicht mehr länger verpflichten, für Projekt-Engagements hingegen sind sie zu haben. AC: Die Kirchen entwickeln sich mit der Gesellschaft und müssen neue Formen suchen, neue Gefässe eröffnen, punktuelle Angebote schaffen. Die Aktivitäten haben sich deswegen nicht reduziert, sondern sie haben ein neues Gesicht bekommen. Wir hatten im Seelsorge-Team kürzlich eine Retraite. Unser erster Leitspruch lautet: «Die Erinnerung ist die Schwester der Hoffnung.» Herz Jesu Wiedikon probiert immer wieder neue Formate aus. Woher diese Neugierde? RJ: Ich bin ein grosser Träumer! Nach meiner Ausbildung in Sozialpädagogik war ich fast zwei Jahrzehnte lang Bruder im Kapuzinerkloster Appenzell, leitete das Internat der ersten bis dritten Gym. Als Spiritual war ich mit allen Schülerinnen und Schülern in Kontakt. Dort musste man immer bereit sein, neue Dinge anzureissen, aber auch aufzunehmen. Auch als Jugendseelsorger in Kloten und dann hier in Zürich war es mir wichtig, auf die Bedürfnisse der Jugendlichen zu reagieren und Formate zu entwickeln. Als roter Faden dient mir dabei meine Spiritualität. AC: Hier in Herz Jesu Wiedikon herrscht eine Offenheit für Neues. Wir haben ein tolles Team. Wichtig dabei ist immer die Authentizität, mit der wir in diesen neuen Formaten den Menschen begegnen: Jede und jeder muss sich selbst sein können. Nur so kann die Kirche auch Heimat sein. RJ: Wir wollen auch da sein für Leute, die mit Kirche nicht viel am Hut haben. Mit «Brot und Wein» habe ich eine Idee aus der Jugendarbeit weiterentwickelt: Ein gemeinsamer Abend mit «Fingerfood» als leibliche Nahrung und einem spirituellen oder kulturellen Impuls als geistige Nahrung. AC: Auch die aufsuchende Pastoral ist uns wichtig. Wir besuchen regelmässig Sterbende zuhause, ungeachtet deren Religion. Seelsorge besteht für uns also nicht nur aus klassischen Formen wie Gottesdiensten. Wir wollen auch experimentell sein und immer wieder Neues ausprobieren. Wir wollen auch da sein für Leute, die mit Kirche nicht viel am Hut haben. Auch karitative Tätigkeiten gehören zur Kirche. RJ: Ja, das ist ganz wichtig. Wir versuchen, hier möglichst niederschwellig zu sein. Unsere Mensa beliefert zum Beispiel dreimal die Woche Schwester Ariane mit 80 warmen Mahlzeiten. Mit ihrem Verein Incontro ist sie im Langstrassenquartier in der Gassenarbeit tätig. AC: Auch die Theatergruppe Schräge Vögel ist bei uns beheimatet, probt hier und tritt manchmal im Rahmen von Pfarreianlässen auf. Zweimal die Woche treffen sich Flüchtlinge hier mit einer Schneiderin und nähen Kleider. RJ: Wir haben das Glück, verschiedenen solchen Initiativen Raum bieten zu können oder einen Anschub zu geben. Immer wichtig ist mir die Hilfe zur Selbsthilfe. Speziell an der Pfarrei Herz Jesu ist auch, dass hier drei Missionen beheimatet sind. Seit 50 Jahren die Tschechen-Mission, dazu die polnische und die tamilische Mission.
AC: Es gibt – in nicht-pandemischen Zeiten – Sonntage, an denen über tausend Personen die Kirche besuchen. Hier können wir also nicht von leeren Kirchen sprechen! Die Menschen kommen teils von weit her zu uns. RJ: Die Vielfalt an Menschen und Kulturen versuchen wir auch zu leben und die Partizipation in alle Richtungen zu ermöglichen. Die tamilischen Ministrantinnen etwa sind auch im Pfarreigottesdienst tätig. AC: Ein schöner Anlass für mich ist jeweils der «Tag der Völker» mit allen Missionen, der das nächste Mal am 29. August stattfindet. Diese Feier zeigt das Verbindende: Die katholische Kirche im Kanton Zürich ist eine Migrantenkirche. Menschen kamen immer hierher, um zu arbeiten – aus den katholischen Regionen der Schweiz und heute aus der ganzen Welt. Und die Kirche bedeutete jeweils Heimat für sie.
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