Als die Wiediker Katholiken vor 101 Jahren ihre neue Pfarrei Herz Jesu weihten, lagen sie im Trend. Die Herz-Jesu-Verehrung erlebte damals ihre Blütezeit – auch im Kanton Zürich. Ihre Kernbotschaft scheint zeitlos und wird in Wiedikon auch heute noch gelebt. Die Verehrung des Herzens Jesu gab es bereits im Mittelalter, für eine breite Verbreitung dieser Frömmigkeitsform sorgten aber die Jesuiten im frühneuzeitlichen Frankreich. Dort soll die Nonne Margareta Maria Alacoque im 17. Jahrhundert Visionen gehabt haben. Jesus persönlich soll sie aufgefordert haben, die Verehrung seines Herzens zu verkünden und hierzu ein besonders Fest zu etablieren. Die Jesuiten nahmen dieses Anliegen auf und begannen die Herz-Jesu-Verehrung insbesondere durch ihre Volksmissionen zu verbreiten. 1856 nahm Papst Pius IX. das Fest zu Herz Jesu in den liturgischen Weltkalender auf, seit 1899 gilt es als «Hochfest des Herrn», wie Ostern und Pfingsten – und ist auf den dritten Freitag nach letzteren angesetzt. Margareta Maria Alacoque wurde 1864 selig- und 1920 heiliggesprochen. Dies, die Gründung von Gemeinschaften wie die der Herz-Jesu-Priester sowie das von den Jesuiten initiierte Gebetsapostolat zu Herz Jesu – ein Verein zur täglichen Gebetspraxis – gab dieser Verehrung weiteren Aufwind. Ein Trend in Zürichs Diaspora Es war der Pfarrer von St. Peter und Paul, Johann Baptist Hildebrand, der 1915 die Idee hatte, in Wiedikon eine Herz Jesu Pfarrei zu errichten. «In einer Zeit des herzlosen Materialismus, wo Korruption, Gewalt und Mord herrschten, da wollte er ein Gotteshaus bauen, das dem Geheimnis der göttlichen Liebe, dem Herzen des Welterlösers geweiht sein sollte», ist dazu in der Pfarreichronik von Herz Jesu zu lesen. In den darauffolgenden Jahren war Pfarrer Hildebrand sehr bemüht, den Kirchenbau mittels der Sammlung von Spenden zu realisieren. Doch starb er 1919, bevor er sein Projekt, «sein grösstes Lebenswerk», wie es in einem Nekrolog heisst, beenden konnte. Noch in seinen Fieberträumen vor seinem Tod soll er von der Herz Jesu Kirche gesprochen haben. Am 15. Juni 1921 schliesslich errichtete das Bischöfliche Ordinariat die Pfarrei Herz Jesu Zürich-Wiedikon und am darauffolgenden 26. Juni fand die Einsegnung der Kirche statt. Im Kanton Zürich gab es zu dieser Zeit bereits zwei Herz Jesu Kirchen: eine in Uster (1884) und eine in Oerlikon (1893). Der Trend hielt an: nach Wiedikon folgten 1934 noch Winterthur und Turbental. Allgemein in der Schweiz, insbesondere aber in Deutschland und auch Österreich, gab es damals zahlreiche Herz-Jesu-Gründungen. Gegen Säkularismus und Materialismus Die Verehrung des Herzen Jesu hatte konkrete Bedeutungen: In der römisch-katholischen Spiritualität ist das Herz von Jesus Christus ein Symbol seiner Liebe und wird als solches verehrt. Das im Prozess der Kreuzigung durchbohrte Herz von Jesus gilt als Quelle der Sakramente, wie die Präfation – das Eingangswort – der entsprechenden Votivmesse zeigt: Aus seiner geöffneten Seite strömen Blut und Wasser, aus seinem durchbohrten Herzen entspringen die Sakramente der Kirche. Das Herz des Erlösers steht offen für alle, damit sie freudig schöpfen aus den Quellen des Heiles. Die Förderung der Verehrung des Herzens Jesu in der Zeit des Kulturkampfes Ende des 19. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam nicht von ungefähr und hatte auch eine politische Dimension: Sie diente der Kirche im Kampf gegen den Verlust der weltlichen Macht und befeuerte ihre Opposition gegen Säkularismus und Materialismus. Emotionale Attribute wie Liebe, Hingabe und Demut waren Kontrapunkte zur technischen Moderne und Aufklärung. Das Herz trotzte so dem Kopf als Sinnbild des Intellekts und der Wissenschaft. In der Zürcher Diaspora verkörperte das Herz Jesu Wärme und Heimat in einer als feindlich empfundenen Umgebung. Und heute?
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts flachte der Kult um das verehrte Herz ab. Doch ist die Bedeutung von Herz Jesu heute gänzlich obsolet geworden? Im Gegenteil, meint Diakon Ronald Jenny: «Liebe und Barmherzigkeit sind unser Herzstück und unser Leitfaden durch das liturgische und pastoral-diakonische Jahr.» Es geht dabei nicht um eine «süssliche, abgehobene Herz-Jesu Frömmigkeit, sondern um eine Vision und Passion». Im Zentrum stehen, so Jenny, das Mitgefühl und die Achtsamkeit. Dies bedeute, «dass wir den Menschen mit dem Herzen und aus dem Herzen Jesu begegnen. Dass wir einander anschauen mit den Augen Jesu. Dass wir einander zuhören mit den Ohren Jesu. Und dass wir einfach da sind, absichtslos.»
0 Kommentare
Antwort hinterlassen |