Ein Blick in die alten Ausgaben des «Kirchenanzeigers» – heute «Forum» – verrät viel über frühere Weihnachtsfeiern: Am Stefanstag etwa sangen und spielten Vereinsmitglieder jeweils schalkhafte Stücke, im Hochamt am 25. Dezember wurde Mozart besonders häufig gesungen. Einst gab es mitten in Wiedikon ein Kino – an der Zweierstrasse 134, erst «Kolosseum» genannt, später und bis zur Schliessung 1968 «Royal». Zwar hatten Kinos in den 1920er-Jahren ihren schlechten Ruf als Orte der Unsittlichkeit noch nicht ganz abgestreift, aber dem katholischen Männerverein Herz Jesu schien dies keine Rolle zu spielen: Für den 26. Dezember 1921 luden die Männer auf 19 Uhr zur Pfarrei-Weihnachtsfeier ins «Kolosseum» ein. Zwei Tage zuvor, an Heiligabend, war in Herz Jesu Wiedikon zum ersten Mal seit der Reformation eine Mitternachtsmesse zelebriert worden. Volkslieder im Kino Für die Feier im «Kolosseum» konnte man in der Spezereihandlung von Albert Auchter an der Weststrasse 145 oder bei Coiffeur Eugen Klingler an der Zelgstrasse 2 Billette kaufen. Für 1 Franken gab es einen Platz im Parkett («vorderer Saal»), für 30 Rappen schaute man aus den hinteren Rängen oder von der Galerie aus zu. Das abendfüllende Programm war abwechslungsreich: Zur Eröffnung sangen der Knaben- und der Ambrosiuschor ein «Gloria» des heute in Vergessenheit geratenen Kilchberger Komponisten Josef Heinrich Dietrich. Anschliessend wechselten sich die beiden Chöre mit ihren Darbietungen ab: Volkslieder, humoristische Einlagen und ein Weihnachtsspiel mit dem Titel «Wieder vereint» folgten aufeinander. Zwar fehlen Erlebnisberichte, doch es ist anzunehmen, dass die Sänger und Schauspieler vor vollen Rängen auftraten und die Teilnehmenden gut unterhalten waren. Denn die Weihnachtsfeier der Pfarrei bürgerte sich bald ein. Vereine als treibende Kraft Die Feiern wurde jeweils von Vereinen organisiert und fand in den 1920er- und 1930er-Jahren meistens am Stefanstag statt. Auf dem Programm standen immer auch weltliche Lieder und häufig Stücke aus Operetten. Nach einem Jahr im «Kolosseum» wählten die Chöre 1922 das «Kasino», das Vereinshaus der Pfarrei St. Peter und Paul, an der Badenerstrasse als Ort für die Feier. Nach Eröffnung des Johanneums 1926 gab es endlich ein eigenes Versammlungslokal für solche Anlässe. Katholiken zählen Ein zentrales Element der Feier war jeweils die Ansprache des Pfarrers, der den Pfarreiangehörigen mitunter die neuesten statistischen Daten vortrug: Wie viele Katholikinnen und Katholiken leben in Wiedikon? Wie viele sind zugezogen? Wie viele sind weggezogen? In den 1930er-Jahren betrug die Zahl um die 5000 bis 6000 Familien. «Rechnet man auch diejenigen dazu, wo der Mann nicht unserer Konfession angehört, dürfte die Zahl um ein Bedeutendes erhöht werden», sagte Pfarrer Benjamin Simmen 1937. Dies war eine Vergewisserung für die Mitglieder der Diasporagemeinde Herz Jesu Wiedikon, die sich politisch noch immer im Abseits sah: Zwar waren die Katholikinnen und Katholiken noch in der Minderheit, doch ihre Zahl und somit Bedeutung wuchsen. Bis zur öffentlich-rechtlichen Anerkennung der römisch-katholischen Kirche 1963 indes sollte es noch fast drei Jahrzehnte dauern. Der Chor ist gefordert Heiligabend und am Weihnachtstag sind in der Kirche eine ausgefüllte Zeit. Die zwei Hauptgottesdienste, also die Mitternachtsmesse und das Hochamt am Vormittag des 25. Dezembers, wurden in Herz Jesu Wiedikon jeweils musikalisch durch den Chor und ein Orchester gestaltet. Die Vorbereitungen hierfür waren für die Laien intensiv. Im Kirchenanzeiger vom 22. Dezember 1935 ist etwa zu lesen: «Die Aktiven sind dringend ersucht, die letzten Proben vor Weihnachten lückenlos zu besuchen.» 1946 studierte der Chor gar zwei Messen ein: Mozarts Missa brevis in D-Dur (KV 194) für die Mitternachtsmesse und Josef Rheinbergers Messe in C-Dur (op. 169) für das «Königsamt» am nächsten Morgen. Klassiker «Transeamus» Zur Ankündigung im «Kirchenanzeiger» gehörte bis in die 1980er-Jahre auch ein ausführlicher Kommentar zur Musik, der sich bei den häufig gesungenen Messen wie Mozarts Krönungsmesse (KV 317) im Wortlaut wiederholte. Zum Kyrie in Joseph Hayds Nikolai-Messe (Hob. XXII:6) war 1956 etwa zu lesen: «Wenn die Hirten an der Krippe wirklich gesungen haben, dann muss ihr Singen in dieser Art geklungen haben.» In der Mitternachtsmesse nicht fehlen durften – und dürfen – die Klassiker, so Joseph Ignaz Schnabels «Transeamus usque ad Bethlehem», Johann Ritter von Herbecks «Pueri concinite» und Basil Breitenbachs «Christe Redemptor». Besonderer Beliebtheit in jüngster Zeit erfreut sich Mozarts «Spatzenmesse» (KV 220). Der Gregorius Chor wird sie heuer am Weihnachtstag unter Leitung von Bardia Charaf singen. Weihnachten in Wiedikon – hören sie die Playlist! Diese Werke sind auf der Playlist «Weihnachten in Herz Jesu Wiedikon» zu hören, interpretiert von verschieden Sängerinnen, Sängern und Chören in unterschiedlicher Qualität (auf Link klicken und «alle wiedergeben» wählen, um alle Werke abzuspielen):
0 Kommentare
Antwort hinterlassen |