Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wuchs die katholische Bevölkerung in der Stadt Zürich rasch. In der Folge entstanden auf Stadtgebiet mehrere katholische Kirchen – Herz Jesu Wiedikon war die sechste. Ihr Bau war aber nicht unbestritten: Gegner griffen die freiwilligen Bauarbeiter sogar tätlich an. In den 1990er-Jahren überholten Katholikinnen und Katholiken die Reformierten gemäss Religionsstatistik in der Zwinglistadt Zürich. Seit den Nullerjahren sinken die Mitgliederzahlen der Landeskirchen und die Konfessionslosen bilden die grösste Gruppe in Erhebungen. Vor hundert Jahren befand sich der römisch-katholische Bevölkerungsteil in Zürich ebenfalls in einer Zeit grosser Veränderungen. Industrialisierung und Niederlassungsfreiheit führten im 19. Jahrhundert zu einem starken Anstieg der katholischen Bevölkerung in der Stadt. Waren es 1880 noch etwas über 800 Katholikinnen und Katholiken in Zürich Wiedikon gewesen, verzehnfachte sich diese Zahl bis 1920. Über ein Viertel der Bewohnerinnen und Bewohner des Quartiers zählte sich zur römisch-katholischen Kirche. Die Pfarrei St. Peter und Paul, die vor dem Bau der Kirche Herz Jesu für diesen Stadtteil die Seelsorge besorgte, war um 1920 auf 25 000 Mitglieder angewachsen und platzte aus allen Nähten. Der Pfarrer von St. Peter und Paul, Johann Baptist Hildebrand, regte daher den Bau einer neuen Kirche in Wiedikon an. Vogelfreie Bürger? Ab 1916 wurde mit freiwilligen Gaben, eingetrieben von Haus zu Haus, sowie «Bettelpredigten» für den Baufonds gesammelt. Die Spenden flossen grosszügig. Der Bauplatz an der Aemtlerstrasse von 3200 Quadratmetern Grösse konnte bereits am 27. April 1916 für 65 000 Franken erstanden werden. Bald wurde ein Bauwettbewerb veranstaltet. Diesen gewann schliesslich das Projekt von Architekt Josef Steiner aus Schwyz. Eine Basilika im neuromanischen Baustil sollte es werden, mit einer gewissen ländlichen und heimatlichen Prägung. Am 20. April 1920 folgte der Spatenstich zum Bau der Herz-Jesu-Kirche. Männer aus Wiedikon leisteten nach Feierabend Arbeit für den Aushub. Dieser Einsatz stiess jedoch auf Widerstände. Der erste Pfarrer von Herz Jesu, Christian Herrmann, schrieb in seiner Chronik der Kirchgemeinde über Tumulte im Juli 1920, die «jeden Abend» stattgefunden hätten, «indem sozialistische und kommunistische Volksmassen die Fronarbeiten zu verhindern suchten und Geistliche und katholische Arbeiter insultierten und tatsächlich angriffen». Dabei seien Worte gefallen wie «Nieder mit den Pfaffen und Pfaffenknechten!». Der damalige Pfarrer von St. Peter und Paul, Tranquillino Zanetti, soll die Polizei gerufen und dem Regierungsrat telegrafiert haben: «Sind wir Katholiken eigentlich vogelfreie Bürger?» War die katholische Bevölkerung im damaligen Wiedikon wirklich marginalisiert? Ja, meint der Experte für Katholische Denk- und Lebenswelten, Urs Altermatt. Zürich hatte zu dieser Zeit von allen Städten den höchsten Anteil Katholiken und Katholikinnen und hatte zahlenmässig gar die grössten katholischen Städte wie Luzern und Fribourg überholt. Die katholischen Personen befanden sich aber sozial gesehen in einer Inferioritätsposition. Altermatt zeigt in seinen Untersuchungen, dass dies einerseits an ihrem Status in der Arbeitswelt lag: Über 90 Prozent waren Arbeiterinnen oder Dienstboten, die besser Ausgebildeten übten ein Handwerk aus. Der katholische Bevölkerungsteil konnte seine wirtschaftlich-soziale Lage zwar stetig verbessern, war jedoch auch nach zwei bis drei Generationen noch nicht auf dem Niveau der Protestanten angekommen. Andererseits galten Katholikinnen und Katholiken in Zürich aus zwei Gründen als «Fremde»: Sie waren aus dem Ausland oder aus den katholischen Gegenden der Schweiz zugewandert und eben katholisch. «Katholisch galt damals als etwas Andersartiges, ja Kurioses und Exotisches», so Altermatt in «Konfessionelle Minderheit in der Diaspora». Kirche als Heimat So fühlten sich viele Katholikinnen und Katholiken in Zürich mehr geduldet als gleichberechtigt. Dies lag auch am rechtlichen Status der römisch-katholischen Kirche im Kanton Zürich, die erst 1963 als öffentlich-rechtliche Körperschaft anerkannt wurde. Ebenfalls liess die politische Beteiligung an der Kantonsregierung ähnlich lange auf sich warten. Es war aber durchaus nicht so, dass der katholische Bevölkerungsteil geschlossen kirchentreu seine Religion praktizierte. Untersuchungen zeigen, dass sich ein Drittel der katholisch Getauften vom kirchlichen Alltag abwandte und keine Gottesdienste besuchte. Es war daher die Sorge vor weiteren Verlusten aus den eigenen Reihen, die die katholische Kirche dazu trieb, spezifisch katholische Strukturen in weiteren Quartieren der Stadt Zürich zu schaffen. Fünf Jahre nach dem Bau der Kirche Herz Jesu Wiedikon blickte Pfarrer Christian Herrmann in der Druckschrift «Saat und Ernte in der Diaspora» zurück und schrieb über die Katholikinnen und Katholiken in seiner Kirchgemeinde: «Sie sind fast alles Heimatlose […], weil sie notgedrungen von ihrem trauten Dörfchen, von ihrer katholischen Gemeinde Abschied genommen. […] [S]ie kommen hieher mit ihrem katholischen Glauben, mitten hinein in eine fremde, kalte, diesseitige Luft, ohne religiöse Wärme, ohne Gotteshaus und ohne ewiges Licht. […] Von den Aussenquartieren gehen sie ins Zentrum der Stadt. Wenn sie frühzeitig kommen, finden sie noch ein Plätzlein in der viel zu kleinen überfüllten Kirche. Mit der Zeit aber wird es ihnen zu mühsam. […] Und hunderte gehen zu Grunde, die Abschied genommen haben von ihrer katholischen Heimat. – Und sie wachsen in die Tausende mit ihren Kindern, die keinen Religionsunterricht mehr besuchen. Deshalb muss ihnen eine Kirche erbaut werden, weil sie sonst zu Grunde gehen.» Der Bau der Herz-Jesu-Kirche als sechste katholische Pfarreikirche in der Stadt Zürich ist daher nicht nur aus der Platznot ihrer Mutterpfarrei zu verstehen, sondern sollte der Abwanderung aus der römisch-katholischen Kirche entgegenwirken. Sie schuf eine kirchliche Präsenz in Wiedikon, bot Katholikinnen und Katholiken eine Heimat, übte gleichzeitig aber auch Kontrolle aus. Katholische Vereine sorgten für weltanschaulich geprägte Freizeitgestaltung und es gab Anstrengungen, gegen den in Zürich hohen Anteil von 22 Prozent Mischehen um 1920 vorzugehen. Freiwilligenarbeit war wichtig
Der Bau an der Kirche Herz Jesu Wiedikon machte nach dem ersten Spatenstich im Frühling 1920 rasche Fortschritte. Nach dem Aushub im Juli 1920 wurde im August das Fundament gelegt. Am 5. September 1920 fand unter grosser Beteiligung der katholischen Bevölkerung die Grundsteinlegung statt. Das inbrünstig gesungene Schlusslied der Feier, «Grosser Gott wir loben Dich», soll gar bis in die Pfarrei St. Peter und Paul zu hören gewesen sein. Weil der Schuldenberg unaufhörlich anstieg, blieb Freiwilligenarbeit wichtig für den Kirchenbau. Der zukünftige Pfarrer Christian Herrmann zog mit seinen Vikaren im Herbst 1920 für zwei Tage in seine Heimatgemeinde Obersaxen, um das Holz für die Kirchenbänke schlagen zu helfen. Ende November begannen die Dachdeckerarbeiten und bereits im Februar 1921 konnte das Turmkreuz errichtet werden. Ein Jahr nach Beginn der Bauarbeiten war die Kirche im Juni 1921 bezugsbereit. Der finanzielle und physische Kraftakt war geglückt! Pünktlich zum 100-Jahr-Jubiläum im kommenden Monat wird der nächste Blog-Beitrag von der Errichtung der neuen Pfarrei Herz Jesu, der Einweihung der Kirche und dem prägenden Pfarrer Christian Herrmann handeln.
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